Eine Geschichte wie ein Roman: Der Weltrekord des DDR-Kugelstoßers Rolf Oesterreich wurde nie anerkannt, weil die Politik in den Sport eingegriffen hat. Am zweiten Weihnachtsfeiertag verstarb er 73-jährig.

Es ist eine einzigartige und unglaubliche Geschichte aus der Welt der Leichtathletik. Es ist die Geschichte eines Weltrekords, der nie in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat. Eine Geschichte, wie sie nur in einer (Sport-)Diktatur spielen kann: in der ehemaligen DDR.

1970 verrichtet der 21-jährige Rolf Oesterreich aus Leukersdorf bei Karl-Marx-Stadt (das heutige Chemnitz) seinen Dienst als Grenzsoldat der Volksarmee an der deutsch-deutschen Grenze. Ein Sachverhalt, der ihn zum Geheimnisträger macht und der ihn Jahre später womöglich eine internationale Sportkarriere kostete.

Drehstoß: nicht linientreu und unerwünscht

Der Pädagogik-Student Rolf Oesterreich war begeisterter Kugelstoßer. Mit 1,80 Metern Körpergröße wurde er jedoch als zu klein für eine große Karriere befunden. 1974 stößt er gerade mal 16,24 Meter. Im Fernsehen sieht er den sowjetischen Kugelstoßer Alexander Baryshnikov, der die Disziplin mit der Drehstoß-Technik revolutioniert. Oesterreich bringt sich diese Technik selbst bei. Doch diese gilt in der DDR als unerwünscht, ebenso wie seine Eigeninitiative abseits des sportlichen Fördersystems.

Schon bald überschlagen sich die Ereignisse. Oesterreich liefert in nur zwei Jahren sensationelle Leistungssteigerungen. Im Mai 1976 stößt er die Kugel auf 21,46 Meter, DDR-Jahresbestleistung. Der kleine Kreissportlehrer Oesterreich rüttelt an der Hierarchie, wird vier Tage vor der entscheidenden Qualifikation plötzlich als sportuntauglich eingestuft und nicht für die Olympischen Spiele in Montreal (Kanada) nominiert, er ist zum politischen Opfer geworden.

Weltrekord? "Eine sehr gute Weite"

Die eigentliche Revolution aber passiert am 12. September 1976 in Zschopau bei Karl-Marx-Stadt. „Ich habe am Morgen vor den Bezirksmeisterschaften einen Weltrekord angekündigt", erinnert sich Oesterreich an sein ungewöhnliches Auftreten. Er übertraf die Marke von Baryshnikov um 11 Zentimeter: 22,11 Meter -- Weltrekord für Oesterreich! „Eine sehr gute Weite", hieß es bei der Siegerehrung nur. Die Urkunde wurde ihm nach Hause geschickt. Die Zeitungen verschwiegen den Weltrekord.

Die offizielle Begründung: die 22,11 Meter seien lediglich bei einer Veranstaltung auf Kreisebene erzielt und nicht bei großen Wettkämpfen bestätigt worden. Doch dazu wurde Oesterreich nie eingeladen. „Es war eine einzige Schikane, wie mit mir umgegangen wurde". Der Stachel sitzt auch Jahre später noch tief. Dreimal hatte er über 20 Meter, zwei Mal über 21 Meter und einmal über 22 Meter gestoßen.

1978 wollte der SC Karl-Marx-Stadt seinen Athleten Rolf Oesterreich zu den Euromeisterschaften bringen. Nach einer Weite von 21,30 Meter im Vorfeld entzog man ihm bei den DDR-Meisterschaften in Leipzig kurzerhand die Startkarte. Die EM in Prag war gestrichen. „Nach dieser erneuten systematischen Demontage bin ich zwar laut geworden, habe dann aber einen Schlussstrich gezogen", war Oesterreich endgültig entmutigt.

Schikane als "einzigartige Enttäuschung"

„Die 22,11 Meter waren der lebensentscheidende Moment, die Schikane eine einzige Enttäuschung für mich", zeigte sich Oesterreich verbittert. Er hat bis heute keine Würdigung seiner Leistung oder eine Entschuldigung erhalten. In der ewigen deutschen Bestenliste des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) ist seine Leistung am Ende mit einem Sternchen verewigt. Dort steht: „Die Leistung wurde von der damaligen DDR aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht anerkannt". Es wäre Platz vier hinter Ul Timmermann (23,06 m), Udo Bayer (22,64 m) und David Storl (22,20 m).

Wie kaum eine andere Disziplin gilt das Kugelstoßen als dopinganfällig. „Ich war nie im System des DDR-Sports integriert und hatte deshalb auch keinerlei Zugang zu unterstützenden Mitteln", beteuerte Rolf Oesterreich. Nach dem geplatzten Traum einer internationalen Karriere wurde der einstige Kugelstoßer zu einem Wanderprediger in Sachen Drehstoßtechnik. Er hielt Vorträge und Lehrgänge zu dieser Technik, die die Angleittechnik aufgrund des größeren Beschleunigungswerts für die Kugel besonders im Männer-Kugelstoßen bereits deutlich überholt hat. Wer ihm zuhörte, konnte auch dort die Geschichte des verheimlichten Weltrekords hören, die inzwischen sogar als Stoff für einen Roman („Beste Absichten") hergehalten hat.

Rolf Oesterreich ist am zweiten Weihnachtsfeiertag in Neukirchen (Erzgebirgekreis) im Alter von 73 Jahren verstorben.

Autor: Ewald Walker
(mit freundlicher Genehmigung)
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Foto: © Gladys Chai von der Laage

Ewald Walker